Am 19.06.2017...
...darf auch ich endlich ins langersehnte Abenteuer starten und zu Jonas nach Vilnius fliegen. Nun aber langsam. Während Jonas und sein Papa sich in Osteuropa bereits die Bäuche bräunen, stecke ich zu Hause noch mitten in der Arbeit und den letzten Vorbereitungen fest. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge geniesse ich meine Familie, meine Freunde und mein Top-Team noch in vollen Zügen bevor es endgültig heisst "Auf Wiedersehen".
Tränenüberströmt verabschiede ich mich von meinen Eltern bevor es am nächsten Tag von Luzern aus zum Flughafen geht. Am Vierwaldstättersee verbringe ich mit meinen Liebsten noch einen wunderschönen Tag bei Sonnenschein und Cocktails - vielen Dank dafür!
Zwei weitere gute Freunde erwarten mich bereits am Flughafen. Umgeben von so vielen lieben Menschen fällt mir der Abschied besonders schwierig. Nun gibt es aber kein Zurück mehr - ein letzter Drücker und ab in die Maschine.
Gedankenverloren schlendere ich durch den kleinen, mir unbekannten Flughafen. Auf dem Weg zum Ausgang stolpert mir Jonas beinahe über die Füsse, ohne mich dabei zu bemerken...
...darf ich endlich Sandra vom Flughafen abholen. Ich beginne den letzten Tag alleine ganz gemütlich mit deutschem Fernsehen. Die Strecke zum Flughafen dauert heute länger als gestern, was mich schon ins Schwitzen bringt.
Das Parksystem am Flughafen bekundet wieder seine Mühe mit dem Schweizer-Nummernschild.
Schon habe ich eine Parklücke gefunden und stresse zum Arrival Terminal. "Landed" steht auf der Statusanzeige. Noch keine Sandra zusehen. Erstmal durchatmen. Beim genaueren betrachten steht da noch der Zusatz "Terminal C". Nun die Frage "Wo bin ich?" - Natürlich falsch! Also weiter zum richtigen Terminal zum Glück nur 100m weiter. In der ganzen Hektik laufe ich fast an Sandra vorbei...
Nach drei Wochen Eigenständigkeit können wir uns endlich wieder in die Arme schliessen und den bevorstehenden Weg gemeinsam in Angriff nehmen.
Nach einer kurzen aber herzlichen Begrüssung stellt uns das Parksystem bereits die erste Herausforderung. Elegant verhandeln wir mit der Dame am anderen Ende der Gegensprechanlage und schwups öffnet sie uns den Weg ins Abenteuer.
Von Müdigkeit keine Spur starten wir ins Pflichtprogramm - Sightseeing. Hochsteigend auf den höchsten Hügel Vilnius erblicken wir die drei Kreuze. Die Aussicht beeindruckt uns Bergkinder aber nur mässig. Genug gesehen, ab ins Hotel und frisch machen.
Zum Abendessen geht's in die gemütliche Altstadt. Mit litauischer Kost "blynai" und "capelinai" lassen wir uns verwöhnen.
Das Verlangen nach einem Verdauungsspaziergang holt uns ein und wir schlendern samt Glacé hoch zum Gedimino Turm. Stadtüberblickend geniessen wir dort unseren ersten gemeinsamen Sonnenuntergang. Und damit nicht genug, lassen wir den Tag in der Skybar bei einem Espresso Martini ausklingen.
Nun beginnt auch für Sandra das Zigeunerleben. Um noch mehr Glück auf unserer Reise zu haben, errichten wir unser eigenes Kreuz auf dem sagenumwobenen "Hill of crosses". Von der mystischen Stimmung eingespannt, schweben wir an unzähligen klappernden Kreuzen vorbei.
Gelöst aus dieser Aura fahren wir mit unserm erdverbundenen Zuhause zum nahegelegenen Camping. Schon beim Einbiegen stechen uns die zwei Schweizer-Nummernschilder ins Auge. Wie Zuhause werden wir herzlich begrüsst und als ganz selbstverständlich zum Kaffee eingeladen. Auch der Campingchef zeigt sich von seiner besten Seite und bietet der geselligen Runde einen Krug voll hausgemachten Cidre an. Hätten wir uns doch besser auch noch zum Nachtessen einladen lassen, denn unsere selbst gekochten Spaghetti a là "Krasnodarski" sind sehr gewohnheitsbedürftig.
Während Jonas voller Tatendrang den Tag beginnt, macht Sandra bereits die erste Bekanntschaft mit einer Weltenbummlerin und quatscht seelenruhig mit ihr. Durch Sandra's Charme ist das Eis gebrochen und so gesellt sich auch der Chef zu uns. Fasziniert von unserem Zuhause bittet er um ein Foto für die Promotion seines Campings. Im Gegenzug erhalten wir eine weitere Flasche Cidre und einen Ausflugstipp, welchen wir auch gleich ansteuern.
Unterwegs Richtung Naturpark verdunkelt sich der Himmel immer mehr. Graue Gewitterwolken ziehen über uns her, der Regen prasselt auf uns nieder. Wasserdicht eingepackt trotzen wir den garstigen Umständen. Doch kaum ausgestiegen, drücken schon wieder die ersten Sonnenstrahlen durch. Unbeschwert können wir nun die wunderschöne Landschaft bewundern.
Ein kleines verlassenes Häuschen am Strassenrand weisst uns darauf hin, dass wir Litauen passiert haben. Neues Land, neue Seite - der Reiseführer schwärmt von Pāvilosta im Westen Lettlands. Da wir als Binnenländer auf Reisen ohnehin die Küstenstrassen bevorzugen, entscheiden wir uns für den "Highway One" Lettlands. Erwartungsvoll streben wir an den Strand, wo uns anstatt johlende Touristen, kreischende Möwen erwarten. Unbeholfen wie wir wohl aus der Wäsche gucken, spricht uns ein Eingeborener an und klärt das Mysterium auf. Wir sind zwei Tage zu früh, der Bär steppt hier erst ab dem 23.06.
Enttäuscht darüber, dass wir die Sommersonnenwende nicht hier feiern können, ziehen wir weiter. Ausschauhaltend nach einer Alternative kreuzen wir eine singende Gruppe in Tracht, deren Ziel wir aber leider nicht kennen. Nichtsahnend, dass wir ein solches Spektakel die ganze "Nacht" hautnah miterleben dürfen, steuern wir einen Camping an der Ostsee an.
Das Trommeln der Feiernden begleitet uns auf dem Weg zum Strand, wo wir um Mitternacht den Sonnenuntergang bestaunen. Ihre Feierlichkeiten erstrecken sich bis weit nach Mitternacht. Beim Morgenabwasch finden wir noch den Letzten am Lagerfeuer schlafend vor. Weiter der Küste entlang fahren wir einen Umweg über Kolka, welcher sich dank schönen Wäldern und weissen Sandstränden allemal gelohnt hat.
Bei der Anfahrt nach Riga werden wir für einen kurzen Moment in einen Schockzustand versetzt. Die tiefen Spurrillen auf der Strasse haben unser Zuhause fest im Griff. Geleitet wie auf Schienen fühlen wir uns für einen kurzen Moment machtlos. Doch Jonas bewahrt einen kühlen Kopf und manövriert uns sicher auf die eigene Spur zurück. Im Zentrum angekommen, quälen wir uns durch die engen Gassen der Altstadt, wo sich unser Hotel befindet. Gestrandet an der Fussgängerzone trennen uns nur noch wenige Meter von unserem Hotel. Misstrauisch eilt Sandra zur Rezeption und erkundigt sich nach den angekündigten Parkplätzen. Ausser Spesen nichts gewesen - für zusätzliche 15 Euros und einer weiteren Rundfahrt durch die verwinkelte Altstadt haben wir einen Schlafplatz für unser Zuhause gefunden. Purer Luxus, denn unser Bett kostet nur wenige Franken mehr.
Nach einer kurzen Rast schlendern wir durch den Markt zur Sommersonnenwende. Zur Feier des Tages decken wir uns mit frischem Anisbrot und Kümmel-Käse ein. Die farbigen Häuser im Jugendstil bieten eine perfekte Kulisse zu den traditionellen Darbietungen.
Zurück im Hotel tauschen wir unsere Einkaufsbeutel gegen Abendgarderobe ein. Vom Hunger getrieben, stürzen wir uns eine dunkle Steintreppe hinunter, hinein in ein von Kerzenschein erleuchtetes Gewölbe. Empfangen von mittelalterlichen Klängen werden wir zu unserem Tisch geleitet. Ins Mittelalter zurückversetzt, geniessen wir unser vorzügliches Abendmal bei Fidel und Laute. Von den düsteren Burgen geht es weiter in die schrille Disco-Zeit. ABBA lockt uns mitten in die belebte Altstadt vor eine Festbühne unter freiem Himmel. Zum Abschluss eines genussvollen Tages in Riga kommen wir nicht drum herum, einen nicht ganz so genüsslichen Black Balsam (lettischer Likör) zu probieren.
Fasziniert von Riga starten wir am Morgen danach noch einen weiteren Rundgang bis wir gegen Mittag auch unser Zuhause aus dem Tiefschlaf rütteln und zusammen Richtung Norden aufbrechen. Die vielen Schnappsläden kurz vor der estischen Grenze weisen darauf hin, dass das Bier für uns bald teurer wird. Aber dies soll kein Grund sein, uns den spannenden Mix zwischen dem Wandel von Ost nach West, gewürzt mit einer Prise skandinavischem Charm entgehen zu lassen. Entlang dem "Highway one" ziehen wir an Pärnu vorbei bis uns die Lust zum Fahren vergeht. Erschöpft lassen wir uns in der Nähe eines historischen Fischerdörfchens nieder. Dort geniessen wir bei herrlichem Sonnenschein die Ruhe und prachtvolle Natur bis uns plötzlich das störende Geräusch einer Erinnerungsmeldung aus den Gedanken reisst. Diese trägt uns auf die Inventarliste für den russischen Zoll zu erstellen - wir leisten Folge. Genug Bürokratie für heute, auf unseren Drahteseln radeln wir zu einer nahegelegenen Aussichtsplattform, von welcher wir die atemberaubende Aussicht über den Baumkronen bestaunen.
"Jonas, Jonas - do isch öpper". Hinausgerissen aus seinem friedlichen Schnarchen, reisst er erschrocken das Zeltfenster auf und schaut mit weit aufgerissenen Augen hinaus. Empört stellt er fest, dass der vermeintliche Übeltäter ein ebenso erschrockener Fischer ist. Schwein gehabt, wir können beruhigt weiter schlafen.
Beim Frühstück vernimmt Jonas plötzlich heimatliche Stimmen. Mit einem "Grüazi" empfangen wir die zwei Schweizer Touristen. Verblüfft werfen sie einen Blick auf unser Nummernschild und erwidern anschliessend den Gruss. Nach einem kurzen Schwatz trennen sich unsere Wege auch schon wieder.
Auf der grünen Welle reiten wir mit 48km/h durch die Vororte Tallinn's bis wir per Zufall direkt vor unserem Appartement halten. Dieses lässt sich beinahe mit unserem Zuhause vergleichen - zwei Stöckig, gemütlich und auf ca. 10m2 verteilt. Von der kleinen Wohnung geht's nun raus in die grosse Welt. Vom Regen durchnässt, strömen wir mit der Menschenmenge durch die gewundenen Gassen und erstürmen anschliessend das Burgcafé. Wir versuchen uns an einem Irish Coffee, was wir bereits nach dem ersten Schluck bitter bereuen. Unser Fehler, Irish Coffee sollte man den Iren überlassen. Inzwischen haben die gigantischen Kreuzfahrtschiffe den Hafen von Tallinn wieder verlassen und die verträumte Altstadt Tallinn's ist wieder überschaubar.
Die riesige Fleischschlemmerplatte zum Abendessen hinterlässt Eindruck. Zum einen wie hoch Fleisch stapelbar ist und zum anderen liess der Senf Sandra's Augen gross und wässrig werden. "Oh mein Gott, Jonas mach öppis" waren ihre einzigen Worte zur Schärfe des mit Meerrettich versetzten Senfs. Um den Fleischberg und die Schärfe zu verdauen, brauchen wir noch einen Schnaps in einer Bar mit live Musik. Die Enttäuschung über den Black Balzam sitzt noch tief. Nichts desto trotz versuchen wir auch hier die einheimische Spezialität - Vana Tallinn. Dieser Likör schmeckt hervorragend. Beim nächsten Besuch in Tallinn lassen wir das Auto zu Hause, damit wir diese Leckerei voll auskosten können ;)
Dass Grenzübergänge viel Zeit in Anspruch nehmen können, ist bekannt. Wenn dazu noch die russische Bürokratie hinzukommt, sollte man sich den Tag besser freihalten. In diesem Sinne entschliessen wir uns dazu Tallinn zu verlassen und kurz vor der Grenze noch einmal zu übernachten. Auf einem kleinen Campingplatz an der Ostsee lassen wir uns nieder. Der Inventarliste für den Zoll verliehen wir noch den letzten Schliff bevor sie in den Druck kann. Als Belohnung erlauben wir uns einen Spaziergang entlagn dem Strand, was in einem "schiefera" Wettkampf endet. Ohne Schiedsrichter krönt sich jeder selbst als Sieger. Das Wetter schlägt um, ein Sturm zieht auf. Wir verkriechen uns in unser Zuhause. Der Reisende nebenan tut es uns gleich, weshalb wir seine Route nur auf dem Wohnwagen entnehmen können. Sein Oldtimer Traktor bringt ihn stolze 6000km von Leipzig bis nach St. Petersburg und wieder zurück.
Mit gesundem Selbstvertrauen fahren wir an der russischen Grenze vor. Als einzige stehen wir vor der geschlossenen Schranke und noch bevor dieselbe aufgeht, winkt uns der Zöllner bestimmt zur Seite. Mit Nachdruck schickt er uns zehn Kilometer zurück an die sogenannte "Border Control Zone" um unser Fahrzeug zuerst registrieren zu lassen. Das zweite Mal kommen wir von der richtigen Seite zur Schranke. Dies merken wir vor allem daran, dass wir nicht mehr die einzigen sind, die nach Russland wollen...
Die drei Länder im Baltikum sind sich sehr ähnlich, unterscheiden sich aber trotzdem in ihren Besonderheiten. Der Mix der sowjetischen Vergangenheit und der europäischen Gegenwart sowie die Nähe zu Skandinavien hat uns sehr beeindruckt. Fasziniert hat uns auch, dass man mit russisch und insbesondere deutsch weiter kommt als mit englisch. Diese spannende Kultur, verpackt in einer wunderschönen Natur hat uns mehr als überzeugt. Garantiert werden wir die weissen Sandstrände, die verwinkelten Gassen der Altstädte sowie die einladenden Pups mit live Musik erneut besuchen.